Ein Herbstblatt wie dieses ist ein kleines Wunder. Ich habe es vor einem Jahr bei einem Spaziergang gefunden und musste es gleich fotografieren.

Die Farben der Natur
Was mich fasziniert: Das leuchtende Rot des Blatts, das warme Orange, die Gelb- und Brauntöne – all das war die ganze Zeit da. Nur sah man es nicht. Solange das Blatt voller Leben war, überstrahlte das satte Grün des Chlorophylls alles andere. Erst als sich dieses Grün zurückzog, als der Lebenssaft sich sammelte und der Baum begann, sich auf den Winter vorzubereiten, traten die verborgenen Farben hervor.

Das klingt paradox: Seine grösste Schönheit zeigt das Blatt erst, wenn sein Ende naht. Die Farben des Herbstes sind nichts Neues – sie waren im Blatt gegenwärtig wie eine stille Reserve, ein Geheimnis, das auf den richtigen Moment wartete. Das Vergehen – es kündigt sich deutlich am Rand des Blattes an – ist nicht nur Verlust, es ist auch Offenbarung.

Die Farben des Menschen
Vielleicht ist das bei uns Menschen gar nicht so anders. In den kraftvollen Jahren unseres Lebens strahlt oft das «Grün» – unsere Energie, unser Drang nach vorne, unsere Fähigkeit, vieles gleichzeitig zu wollen und zu tun. Das ist oft schön und manchmal auch wichtig. Doch manche Farben unserer Persönlichkeit, manche Tiefe und Begabungen kommen erst zum Vorschein, wenn dieses Grün sich zurückzieht.

Mit den Jahren, mit Erfahrung – und ja, auch mit manchem Abschied – zeigen sich Facetten, die vorher verborgen waren: Geduld, Gelassenheit, Humor, Milde. Sie entstehen nicht plötzlich, sie waren schon immer Teil von uns, nur überdeckt vom Leben junger Jahre.

So wie das Herbstblatt noch einmal wunderbar schimmert, birgt auch unser Vergehen noch einmal Schönes. Vielleicht ist das der Trost der Natur: Schönheit ist nicht nur eine Sache des Anfangs. Manchmal liegt ihre grösste Tiefe im Loslassen. Und vielleicht sind gerade die Farben, die erst im Herbst erscheinen, jene, die am längsten in den Herzen bleiben.