Von den Blättern das Loslassen lernen
Es gibt Menschen, die werden im Herbst etwas melancholisch. Der Sommer zerrinnt zwischen ihren Fingern und macht der kühleren, dunkleren Jahreszeit Platz, und nichts, gar nichts kann diesen Prozess aufhalten. Vielleicht sind ein Grund dieser Melancholie nicht nur die äusseren Zeichen der Natur, die sich wandelt und zurückzieht, sondern auch unbewusst und manchmal auch bewusst der Gedanke, dass alles Leben vergänglich ist.
Das Leben ist nicht vergänglich
Dass der Abschied von der Wärme des Sommers schwerfällt – besonders für Sonnenliebhaber – erstaunt nicht, und dennoch gibt es noch eine andere Sichtweise, die uns die Jahreszeiten lehren. Hier geht es nicht einfach nur um Vergänglichkeit und Verlust, sondern um Wandel. Das Leben ist schliesslich nicht auf den Sommer beschränkt, sondern zeigt sich in allen Jahreszeiten. So kann das Leben auch nicht vergänglich sein, es wandelt sich nur.
Herbst lehrt uns das Loslassen
Der Blick auf die Natur lehrt uns immer wieder diese Wahrheit, und die Lektion, die uns der Herbst vermittelt, zeigt uns, dass das Loslassen zum Leben gehört. Der Wandel, den wir im Herbst beobachten, verweist auf die verschiedenen Stadien des Lebens. Die Bäume machen es uns vor, dass wir nicht immer aus uns heraus leben können, sondern dass das Ballastabwerfen und Zurückziehen eine Notwendigkeit ist, ohne die sich das Leben nicht weiterentwickeln kann. Loslassen gehört zum Leben, und der Herbst zeigt uns, wie dies auch prachtvoll, farbenfroh und in Schönheit geschehen kann.
Loslassen ist schwer
Und dennoch fällt es uns schwer, loszulassen: die Kinder, die ausziehen, Traditionen, die sterben, eine Kirche, die nicht mehr so ist wie früher, eine Beziehung, die erstarrt ist … Und wir versuchen festzuhalten, was am Vergehen ist, weil es uns zu sehr schmerzt, uns einzugestehen, dass sich das Leben weiterentwickelt hat – und weil wir zu sehr Angst haben vor dem Ungewissen, das vor uns liegt. Aber der Herbst flüstert uns mit jedem Blatt, das zur Erde segelt, zu: Lass los! Lass los!
Die herbstliche Dimension des Glaubens
Wenn wir uns den Weg Jesu vergegenwärtigen, dann werden wir auch dort daran erinnert, dass das Loslassen zu seinem Leben gehörte und somit auch zu unserem Glauben. Aber dieses Loslassen, selbst in schwierigsten Situationen, war und ist immer gepaart mit dem Vertrauen, dass das Leben weitergeht. Menschen, die den Mut aufbringen, in diesem Vertrauen loszulassen, sind wahrhaft frei und finden «tausend Möglichkeiten, die zu neuem Leben einladen», wie der Dichter Christian Morgenstern (1871–1914) schreibt.
Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Macht euch nur von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden zu einem neuen Leben ein.
Christian Morgenstern
Lukas Briellmann,
Gemeindeleiter Root